Keine Zeit für Abwägungen?

6.11.2018

Editoral von Dr. iur. Urs Schlegel für die Zeitschrift Mandat vom Oktober 2018 über verdeckte Ermittlungen im Bereich Sozialversicherung.

Der umstrittene Gesetzestext wurde eilends verabschiedet, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die gesetzliche Grundlage für verdeckte Ermittlungen im Bereich Sozialversicherung als ungenügend ansah. Notwendig sind nach dem Vorschlag konkrete Anhaltspunkte für einen Missbrauch und ein nicht anders auszuräumender Verdacht. An dreissig Tagen innerhalb von sechs Monaten darf auf Weisung von Mitgliedern einer Direktion einer Sozialversicherung ein öffentlicher Raum, und was von dort einsehbar ist, beschattet werden.

Sozialversicherungen müssen zur Selbsterhaltung vor Missbrauchsversuchen geschützt werden. Die Versicherungen sind dem Trittbrettfahren ausgesetzt. Sie müssen und sollen deshalb den Aufwand zur Missbrauchsbekämpfung betreiben. Wer die Sozialversicherungen schützen will, muss auch die Befugnis zur Informationsbeschaffung geben, damit ab einer gewissen ökonomischen Relevanz repetierbare Versicherungsbetrugsfälle verhindert werden. Ich habe mich in meiner Dissertation «Ökonomische Grenzen staatlicher Leistungen» für eine ökonomische Analyse der Missbrauchsproblematik eingesetzt.

Aus juristischer Sicht können eine gesetzliche Grundlage und ein öffentliches Interesse jedoch nicht vor der Aufgabe entbinden, bei der Beschaffung und Bearbeitung von schützenswerten Personendaten die Verhältnismässigkeit zu beachten. Auch weil nach der Gerichtspraxis im Sozialversicherungsrecht eine Rechtswidrigkeit der Datenermittlung nicht automatisch zur fehlenden Verwertbarkeit führt, ist von hoher Brisanz, wer wie wen wofür ausforscht. Die entsprechende Interessenabwägung hätten jedoch die im eigenen Interesse handelnden Sozialversicherungen bzw. die von ihnen bezahlten Ermittler, z. B. Privatdetektive ausländischer Versicherungskonzerne im Bereich des UVG, vorzunehmen. Besser geeignet wäre eine unabhängige Behörde oder Instanz.

Die vom Gesetzgeber vorgegebene Linie, wonach vom öffentlichen Raum aus beobachtet werden darf, kann vor dem Hintergrund der technischen Möglichkeiten nicht abschliessend relevant sein. Aus Sicht der Menschenrechte ist nicht der Ort des Beschatters massgebend, sondern, ob die Schwere eines Eingriffs gerechtfertigt ist. Das Feld für richterliche Betätigung und Präzisierung wird deshalb im Einzelfall doch eröffnet. Ob der neue gesetzgeberische Ansatz besser ist als keine Regel bzw. das Strafrecht alleine? Dies wird abzuwarten sein.

Editoral von Dr. iur. Urs Schlegel für die Zeitschrift Mandat vom Oktober 2018